Platons Höhle

Wie ein römischer Kardinal aus Platons Höhle floh

5. Juli 2007 | Von Helmut Hansen
Dem griechischen Philosophen Platon zufolge sind wir Gefangene unserer sinnlichen Wahrnehmung. Die wahre Welt bleibt uns in aller Regel verborgen. Doch gelegentlich gelingt es einem, diesem Gefängnis zu entkommen. Der römische Kurienkardinal Nikolaus von Kues war von einer von diesen…

Das Höhlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse des griechischen Philosophen Platon (427 v. Chr. bis 347 v. Chr.). Es stammt aus dem siebten Buch seines Hauptwerkes Politeia (Pol 514a-517a). Es dient, wie auch die anderen Lehrbeispiele Platons, als Standardlehrbeispiel zur Einführung in die Philosophie, speziell in die Erkenntnistheorie.

Es beschreibt einige Menschen, die in einer unterirdischen Höhle von Kindheit an so festgebunden sind, dass sie weder ihre Köpfe noch ihre Körper bewegen und deshalb immer nur auf die ihnen gegenüber liegende Höhlenwand blicken können. Licht haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und ihren Rücken werden Gegenstände vorbeigetragen, die Schatten an die Wand werfen. Die „Gefangenen" können nur diese Schatten der Gegenstände sowie ihre eigenen Schatten und die ihrer Mitgefangenen wahrnehmen. Wenn die Träger der Gegenstände sprechen, hallt es von der Wand so zurück, als ob die Schatten selber sprächen. Da sich die Welt der Gefangenen ausschließlich um diese Schatten dreht, deuten sie diese, als handelte es sich bei ihnen um die wahre Welt.

Platon zufolge leben wir in einer solchen Höhle. Sie ist Symbol für unsere sinnlich wahrnehmbare Welt. Alles, was wir in ihr wahrnehmen, sind in Wahrheit nur die Schatten einer höheren und wahreren Wirklichkeit. Nur selten gelingt es einem Menschen, aus dieser Höhle zu entkommen und einen Blick auf die wahre Natur der Wirklichkeit zu werfen.

Einer dieser Menschen, dem es offenbar gelungen, Platons Höhle zu entkommen - wenn auch nur für einen einzigen magischen Augenblick - ist Nikolaus von Kues. Was er jedoch in diesem einen einzigen magischen Augenblick wahrnimmt, wird auf immer sein Denken verändern.



Ein unbekannter Historiker schildert die Ereignisse, die diesem Augenblick vorausgegangen und die ihm gefolgt sind mit den Worten:

"Ende November 1437 war im Hafen von Konstantinopel eine illustre Gesellschaft von Kirchenfürsten und Gelehrten an Bord des Segelschiffes Marco Polo gegangen - ihr Ziel: Venedig. Unter ihnen befand sich Nikolaus von Kues, ein kräftiger, leicht untersetzter Mann mit hoher Stirn. Von Kues war päpstlicher Legat. Im Herbst 1437 hatte ihn Papst Eugen IV. nach Konstantinopel geschickt. Seine Mission war es, den griechischen Kaiser Johannes VIII., Palaeologos, den Patriarchen von Konstantinopel, sowie eine Reihe weiterer Kirchenfürsten nach Italien zu holen. Diese Reise galt in Kirchenkreisen als eine äußerst heikle diplomatische Mission, verfolgte sie doch keinen geringeren Zweck, als die byzantische Ostkirche wieder mit der römischen Papstkirche zu vereinen.

Doch Nikolaus’ Verhandlungsgeschick sollte sich aus dieses Mal als erfolgreich erweisen. Am 21. Dezember 1438 gingen sowohl Kaiser als auch Patriarch an Bord der päpstlichen Karavellen St. Augustin und Stern von Bethlehem. Nikolaus hatte seine Mission erfüllt. Alles weitere lag nunmehr in den Händen des Konzils in Ferrara.

Als die päpstliche Flotte in See sticht und die bunten Wimpel Konstantinopels Nikolaus’ Blick entschwinden, ahnt er noch nicht, dass diese Reise für immer sein Denken verwandeln wird. Er genießt die Anwesenheit der vielen griechischen Gelehrten, die dem Stab des Kaisers angehören. Unter ihnen Traversari und Ausrispa, bedeutende Platoniker. Sie werden später die Florentiner für Platon begeistern. Aber auch einige der Bischöfe der Ostkirche haben es ihm angetan, besonders Erzbischof Bessarion von Nicäa, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden wird.

Eines Morgens dann, die Straße von Otranto lag hinter ihnen, hatte Nikolaus nach einem unruhigen Schlaf seine Koje verlassen und war auf das fast menschenleere Deck getreten. Es war Januar geworden - und die Nächte waren empfindlich kalt. Der Wind riss an der Takelage.

Als Nikolaus über die bewegte See blickt, den Horizont mit seinen Blicken absuchend, geschieht es: Das, was sich so hartnäckig viele Jahre seinem Verstehen entzogen hatte, wird ihm in einem einzigen Augenblick klar - glasklar. Plötzlich versteht er, warum all seine Bemühungen, Gott mit den Mitteln des Verstandes verstehen zu wollen, gescheitert sind. Er erkennt mit einem Schlag die wahre Natur Gottes. Während er diese Erkenntnis hat, ergießen sich die ersten Sonnenstrahlen über das vom Meerwasser geschundene Deck. Er ist noch so tief von seiner Erkenntnis erfüllt, dass er nicht bemerkt, wie Bessarion neben ihn tritt. Diese Erkenntnis wird ihn nicht mehr loslassen. Er wird sie später seinem Freund Cesarion gegenüber als ein Geschenk vom Vater des Lichts bezeichnen.

Bereits in der ersten größeren Atempause, die ihm die Kirchenpolitik lässt, zieht sich er für einige Zeit auf seine Propstei in Münster/Maifeld in der Eiffel zurück. Es ist Weihnachten 1439. Doch die Muße scheint nur von kurzer Zeit zu sein. Bereits in einem Schreiben vom 10. Januar 1440 ersucht ihn der Papst, sich Anfang Februar zur Königswahl nach Frankfurt zu begeben. Es ist mehr dem Zufall zu danken, dass ihn dieses Schreiben nie erreicht. Das Schreiben wird bereits in Basel abgefangen und der Bote festgenommen. Und so kann Nikolaus - in Unkenntnis des päpstlichen Auftrages - seine »Reiseerfahrung« verarbeiten.

Um seinem visionären Gedanken eine angemessene schriftliche Form zu geben, bedarf es, wie er seinen Leser später im einleitenden Prolog wissen lässt, einer „ungeheueren Anstrengung". Doch bereits am 12. Februar 1440 - nach nur ein paar Wochen - wird er seine Arbeit an einem immerhin dreibändigen Werk zum Abschluss zu bringen." Es trägt den Titel „Von der wissenden Unwissenheit" (De docta ignorantia). Sein Inhalt ist ebenso sensationell wie ungewöhnlich.

Nikolaus behauptet nämlich, Philosophen seien in ihrem Bemühen, Gott denkend erfassen zu wollen, vor allem deswegen gescheitert, weil sie es für ausgeschlossen hielten, dass entgegengesetzte Prinzipien eines Dings, wie z.B. Form und Substanz, in einem dritten Prinzip zusammenfallen könnten, da sie sich gegenseitig ausschlössen.

In dem sie die Aristotelische Logik, speziell den »Satz vom ausgeschlossenen Dritten«, über die sichtbare Welt hinaus als einen für die gesamte Realität - Gott und die Welt - geltenden Grundsatz erklärt hätten, hätten sie nicht erkennen können, dass Gott gerade jenes ausgeschlossene Dritte ist, in und mit dem derlei widersprüchliche Bestimmungen aufgehoben würden. Seine Doktrin von der »coincidentia oppositorum« - dem Zusammenfall der Gegensätze in Gott - war geboren. Und sie war revolutionär, hatte doch Thomas von Aquin Ende des 13. Jahrhunderts in einer grandiosen Synthese nicht nur die Aristotelische Metaphysik, sondern auch die Aristotelische Logik zur bestimmenden philosophischen Grundlage des Christentums gemacht."

Eben diese Doktrin vom Zusammenfall der Gegensätze könnte sich als der Schlüssel zu einem modernen Gottesbeweis erweisen. Sie sollte fünf Jahrhunderte später unter der Bezeichnung Grenzbedingungen im Unendlichen eine zentrale Rolle in der modernen Physik spielen.

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